Humboldt-Universität zu Berlin - Kultur-, Sozial- und Bildungswissenschaftliche Fakultät - Allgemeine Erziehungswissenschaft

Forschungsinteressen

  • Agrarbildung
  • Agrardidaktik
  • Lernen am Lebebendigen
  • Erweiterte Beruflichkeit
  • Berufsbildung für nachhaltige Entwicklung
  • Lernen im Arbeitsprozess
  • Lernen durch lehren

 

 

Promotionsprojekt

betreut durch den Fachbereich seit 07/2020

 

Phänomene des Lebendigen als bildungstheoretische Herausforderung einer Agrarbildung für nachhaltige Entwicklung

 

Die Megatrends der Digitalisierung, Vernetzung und Automatisierung von Produktionsprozessen treiben auch in der Landwirtschaft in eine neue Runde der Technologiespirale. Technisierung, technisches Handeln und Technikwissen sind dabei drei sich wechselseitig verstärkende Teilprozesse einer spiralförmig verlaufenden Dynamik des Technotops, aus der heraus Landwirtschaft weitgehend nur noch aus einer technischen Perspektive wahrgenommen wird.

Aber wir „machen nicht nur Technik, sondern sie macht auch etwas mit uns.“ (von Randow 2014). Technik als Teil unserer Lebenswelt verändert ihrerseits unsere Gewohnheiten, Sichtweisen, Normen und Wissensbestände.

Demgegenüber eröffnet die phänomenale Erfahrung von Wachstumsprozessen und das Vermehren von Nutzorganismen in der agrarischen Praxis eine ganz andere Perspektive auf Landwirtschaft. Die Beteiligung lebendiger Tiere, Pflanzen und Mikroorganismen ist unmittelbar erfahrbar und die Reflexion der landwirtschaftlichen Produktionsprozesse verweist auf den originär organischen Charakter der landwirtschaftlichen Produktion als Teil des Ökotops.

Agrarprodukte sind nicht von Menschen hergestellt wie Autos oder Kühlschränke, sondern sie „wachsen“ und „vermehren“ sich und sind unmittelbarer Ausdruck der Produktionsleistung der beteiligten Lebewesen. Diese Nutzorganismen sind anders als im Handwerk oder der Industrie keine klassischen Werkstoffe oder Betriebsmittel, die von Menschen verarbeitet werden, sondern sind selbst produktiv tätig. Holz wächst nur an Holz. Tomaten nur an Tomaten. Und auch die Forellen können nur mit Forellen gezüchtet werden. Und umgekehrt sind es nicht die Maschinen, die die landwirtschaftlichen Produkte hervorbringen, keine Melkmaschine gibt Milch, kein Mähdrescher erzeugt Weizen. Der organische Produktionsprozess unterscheidet Agrarkultur grundlegend von den Produktionsprozessen anderer Wirtschaftssektoren wie Handwerk und Industrie. „Wachstum“ und „Vermehrung“ zeichnen als charakteristische Phänomene des Lebendigen den landwirtschaftlichen Erzeugungsprozess aus.

Die Kennzeichen lebendiger organischer und lebloser technischer Prozesse unterscheiden sich prinzipiell in ihrer Eigengesetzlichkeit und ihrer Eigenlogik bzw. ihrem Eigensinn.

Das Ziel der Dissertation ist es auf die grundlegende Bedeutung des Lebendigen für die Landwirtschaft aufmerksam zu machen. Im Mittelpunkt der Arbeit steht die Frage nach dem Wesen der Landwirtschaft und den daraus erwachsenden Konsequenzen für eine zeitgemäße Agrarbildung.

Mit der grundlagentheoretischen Analyse des agrarischen Produktionsprozesses und der Fokussierung auf die lebendigen organischen Prozesse begibt sich die Arbeit auf Spurensuche.  Die Arbeit zeigt agrarhistorisch und erkenntnistheoretisch auf, dass Agrarkultur sich grundlegend in der Art des Produktionsprozesses und seiner Produkte von allen anderen Wirtschaftssektoren unterscheidet. Das Alleinstellungsmerkmal ist die zielgerichtete produktive Interaktion des Menschen mit lebendigen Tieren, Pflanzen und Mikroorganismen. Dabei kommt es zu einem wechselseitigen Zusammenwirken von Phänomenen des Lebendigen wie dem >Wachstum< oder der >Vermehrung< und einer Vielfalt unterschiedlicher technischer Prozesse. Dieser hybride Charakter des Produktionsprozesses stellt den eigentlichen Wesenskern der landwirtschaftlichen Produktion dar.  In Zeiten von Landwirtschaft 4.0 wird dieses Zusammenspiel einseitig durch immer weitreichendere technische Produktionsprozesse bis zur Unkenntlichkeit überlagert. Landwirtschaft bleibt aber dennoch ein wechselseitiges Zusammenspiel organischer und technischer Prozesse.

Über ihre technische Seite weiß die moderne Landwirtschaft viel zu berichten. Ihre lebendige Seite ist hingegen weitgehend unbeachtet und unreflektiert. Ihr möchte ich mich mit meiner Arbeit im Besonderen zuwenden und zu einem Perspektivwechsel beitragen, da die Phänomene des Lebendigen in der Landwirtschaft meines Erachtens nicht ausreichend Berücksichtigung finden.

Das Innovationsziel ist die tiefgreifende Reform der Agrarbildung durch die „Wiederentdeckung“ und Inwertsetzung der organischen Produktionsgrundlagen und des hybriden Charakters des landwirtschaftlichen Produktionsprozesses. Mit dem fachdidaktischen Ansatz des „Lebendigen Verstehens“ soll in diesem Sinne ein Beitrag zur Entwicklung und Erprobung neuer Lern- und Lehrkonzepte in der Agrarbildung geleistet werden. Insbesondere im Zusammenhang einer Agrarbildung für nachhaltige Entwicklung ist dieser Ansatz von großer Bedeutung.