Humboldt-Universität zu Berlin - Kultur-, Sozial- und Bildungswissenschaftliche Fakultät - Allgemeine Erziehungswissenschaft

Forschungsinteressen

  • Bildungsprozesse
  • Verkörperungen/ Embodiment
  • Ethische Dimensionen von Erziehung und Bildung
  • Pädagogik und nachhaltige Entwicklung
  • Lehrplanentwicklung

 

 

Promotionsprojekt:

seit 02/2020

 

Bildung mit Capoeira. Videographische und phänomenologische Untersuchungen zur Übung (practising) der afro-brasilianischen Kampfkunst

 

Das Forschungsprojekt situiert sich an der Schnittstelle von Bildungstheorie, Übungstheorie und empirischer, phänomenologischer Forschung. Es zielt darauf ab, das Bildungspotenzial von wiederholungsbasierten, leiblichen, nicht-sprachlichen Erfahrungen zu erforschen, wie sie beim Üben von Kampfkünsten stattfinden. Bildungstheorien im deutschsprachigen Diskurs konzentrieren sich bisher auf diskontinuierliche bzw. krisenhafte Momente im Bildungsprozess (Koller, 2018). Sie können aber kaum wiederholende und leibliche Erfahrungen als Bildungserfahrungen erfassen (Brinkmann, 2021, S. 73-74). Diesem Desiderat widmet sich meine Arbeit. Dazu greife ich auf den phänomenologischen Zugang zu leiblichen, motorischen Erfahrungen (Merleau-Ponty, 1966; Waldenfels, 2021), auf die darauf aufbauende Theorie der Übung (Brinkmann, 2012; 2021) sowie auf die pädagogisch phänomenologischen Videographie (Brinkmann & Rödel, 2018) zurück. Die Dissertation ist im Bereich der theoretisch-empirischen Forschungen bzw. der theoretischen Empirie verortet (vgl. Brinkmann, 2015), die für sich in Anspruch nimmt, nicht nur empirische Erfahrungen qualitativ und deskriptiv zu erfassen, sondern auch aus den gewonnenen Daten und Auswertungen neue Theorieperspektiven zu entwerfen.

Capoeira ist eine afrobrasilianische Kampfkunst, die Tanz, Kampf und Spiel verbindet. Ihre Ursprünge liegen im kolonialen Brasilien des 19. Jahrhunderts, wo sie hauptsächlich von versklavten Afrikanern praktiziert wurde. Aufgrund ihrer Geschichte und der Kultivierung afrikanischer Bewegungs-, Musik- und Gemeinschaftsformen wird sie als Praxis des Widerstands (Assunção, 1999) betrachtet, die für eine dekoloniale Pädagogik (Abib, 2019) fruchtbar gemacht werden kann. Seit den 1990er Jahren wird Capoeira vor allem in den Bereichen Anthropologie, Geschichte und Soziologie untersucht. Bisher wurde sie jedoch nicht aus bildungstheoretischer Perspektive betrachtet und videographisch erforscht.

Der gewählte übungstheoretische, bildungstheoretische und videographische Zugang ermöglicht es, Übungserfahrungen in der Capoeira-Situation als nicht-lineare, produktive und bildende Erfahrungsprozesse zu betrachten, in denen sich die einzelnen Akteur*innen in der Gemeinschaft eine Form geben und diese zugleich transformieren. Dieser Zugang auf formierende, bildende Erfahrungen unterscheidet sich von Perspektiven auf Capoeira und seine Übungen als lineare, rezeptive Enkulturation (Downey, 2012) oder als Erwerbs eines Habitus betrachten (Delamont, Stephens & Campos, 2017). Die phänomenologische Beschreibung von Übungspraxen, die „dekolonisierend“ erfahren werden können, wird zudem das dekolonialen Potenzial der Capoeira aufdecken und zu einer bildungstheoretischen Rahmung dekolonialer Ansätze und einer „dekoloniale“ Ergänzung bildungstheoretischer Ansätze beitragen. 

Unter bildenden Erfahrungen werden Erfahrungsprozesse verstanden, in denen sich das Verhältnis der Person zu sich selbst und zur Welt verändert (Buck, 2019; Benner, 2019; Brinkmann, 2022). Meine These ist, dass bildende Erfahrungen in der Capoeira im Kontext stetiger, herausfordernder und repetitiver Übungen stattfinden, in denen sich das leibliche Selbst in der Capoeira-Gemeinschaft formiert.

Ich untersuche in meiner Arbeit ein Sample von sechs Videosequenzen, die im Kontext der pädagogisch-phänomenologischen Videographie erhoben, ausgewählt und ausgewertet wurden (vgl. Brinkmann & Rödel, 2018). Die Sequenzen werden als Beispiele für typische Übungspraxen in der Capoeira in Datensitzungen anhand der phänomenologischen Operationen der Deskription, Reduktion und Variation analysiert. Die analysierten Beispiele werden miteinander verglichen und kontrastiert, um bestehende Theorien kritisch zu ergänzen bzw. neue, empirisch gehaltvolle Theorien zu generieren (vgl. Brinkmann, 2015).

Die Ergebnisse meiner Analyse zeigen, dass die leiblichen, sozialen und negativen Dimensionen bildender Erfahrungen in der Capoeira von großer Bedeutung sind. Im Zuge der Auswertung wird eine theoretische Erweiterung konventioneller Bildungstheorien notwendig. Zum einen eine übungstheoretische Erweiterung, die das stetige und repetitive Üben als bildungsrelevante Formation erfassen kann. Diese Erweiterung stellt unter anderem die Erfahrungen des (Noch-)Nicht-Könnens als eine für das Üben charakteristische Form der Negativität dar, die sich durch ihre Subtilität, ihre lange Dauer und ihre Wiederholbarkeit von anderen negativen Erfahrungen unterscheidet. Zum anderen erfolgt eine dekoloniale Erweiterung, die die gemeinschaftlichen Dimensionen der Bildung zurückgewinnt und hervorhebt. Bildung wird somit als Formation und Transformation in der Gemeinschaft, zur Gemeinschaft und von der Gemeinschaft bestimmt. Dies bedeutet auch in der bildenden Erfahrung charakteristischen Momente der Subversion und Individuation (Brinkmann, 2016) zu identifizieren, die auch die Gemeinschaft der Übenden erreicht und verändern kann.