Humboldt-Universität zu Berlin - Kultur-, Sozial- und Bildungswissenschaftliche Fakultät - Arbeitsbereich Wirtschaftspädagogik

3.1 Das Instrument der Fallstudie

In dem hier beschriebenen Teilvorhaben im Rahmen des Projekts "Übergänge zwischen Universität und Schule" steht die Arbeit mit und an Fallstudien im Vordergrund. Die Fallstudie als ein komplexes Lehr-Lern-Arrangement ist mindestens in zweierlei Hinsicht für das Projekt bedeutsam, da die Teilnehmer auf zwei verschiedenen Ebenen mit diesem Instrument agieren sollen.

  1. Der Kompetenzerwerb im didaktischen bzw. fachdidaktischen Bereich soll maßgeblich über Fallstudien gefördert werden. Über konstruierte Fälle, die problemorientiert und komplex auf der einen Seite, aber auch authentisch, d.h. realitätsnah auf der anderen Seite sind, werden die Teilnehmer aufgefordert, solche Lösungsstrategien für die Planung, Durchführung und Evaluierung von Lehr-Lern-Prozessen im berufsbildenden Bereich zu entwickeln, die den Ansprüchen moderner Unterrichtskonzepte genügen.
  2. Einige dieser Fälle sind so konstruiert, dass sie in ihrer Lösung selbst zur Konstruktion von Fallstudien im Bereich des Rechnungswesens führen. Von den Teilnehmern wird also erwartet, dass ihr theoretisches Wissen über moderne Lehr-Lern-Konzepte und -Arrangements für sie handlungsleitend wird, sie also für reale Lehr-Lern-Prozesse auch die Verwendung von Fallstudien planen und diese dann im Unterricht schließlich einsetzen.

Die Thematik des Rechnungswesens wurde dabei ausgewählt, weil Rechnungswesen im Rahmen einer kaufmännischen Berufsbildung eine unverzichtbare Komponente darstellt und fundierte Kenntnisse in diesem komplexen thematischen Bereich für angehende Kaufleute, aber auch für deren Ausbildungspersonal unverzichtbarer Bestandteil im jeweiligen Handlungsfeld sind. Darüber hinaus ist das Rechnungswesen maßgeblich für die geschäftsprozessorientierte Analyse und Planung unternehmerischen Handelns und damit eine wesentliche Basis für die betriebswirtschaftliche Unternehmenssteuerung und -koordination.

Nähert man sich einer Begründung für den Einsatz und die Entwicklung von Fallstudien, wird aus pragmatischer Sicht folgendes deutlich: Eine gegenseitige "Befruchtung" der beiden in die Projektarbeit einzubindenden Klientel im Hinblick auf die zu entwickelnde berufliche Handlungskompetenz scheitert, wenn sie ausschließlich über standardisierte und tradierte Formen des Lehrens und Lernens erfolgt. Lehr-Lern-Prozesse in der beruflichen Bildung laufen in immer stärkerem Maße simuliert ab, sei es im Lernbüro, in der Übungsfirma oder in der Juniorenfirma. Dieser Entwicklung muss bereits in den verschiedenen Phasen der Lehrerausbildung Rechnung getragen werden, d.h. der traditionelle Blick auf Unterricht, der sowohl in der universitären Lehre als auch in den Haupt- und Fachseminaren des Referendariats nach wie vor sehr ausgeprägt ist, muss vorangetrieben werden. Komplexe Lehr-Lern-Arrangements, und damit die Fallstudie, müssen in viel stärkerem Maße Gegenstand einer didaktischen Grundbildung sein. Darüber hinaus sprechen sowohl auf der Ebene des didaktischen Kompetenzerwerbs als auch auf der Ebene der Kompetenz hinsichtlich der Entwicklung und der Verwendung von Fallstudien weitere Aspekte für eben dieses Instrument:

  • Im Vergleich zu anderen komplexen Lehr-Lern-Arrangements, wie z. B. dem Planspiel, oder der Arbeit im Lernbüro, ist eine Fallstudie in ihrer Entwicklung und in ihrem Einsatz relativ wenig zeitintensiv und vor allem sehr flexibel handhabbar.
  • Die Fallstudie ist in allen Lehr-Lern-Prozessen direkt einsetzbar. Ihre Verwendung bedarf in der Regel keiner großen technischen oder organisatorischen Voraussetzungen. Dieses gilt sowohl für die berufsschulische Ausbildung als auch für die erste und zweite Phase der Lehrerausbildung.
  • Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Lernfelddiskussion im Bereich der beruflichen Bildung ist die Fallstudie darüber hinaus vor allem im kaufmännischen Bereich ein hervorragendes Instrument, den alten "Fächerkanon" aufzubrechen und der Forderung nach fachübergreifender Komplexität von Lehr-Lern-Kontexten zu genügen. Voraussetzung hierfür ist ein kompetenter Umgang mit diesem komplexen Lehr-Lern-Arrangement, der bereits während der Lehrerausbildung erworben werden muss. Eben dieser Kompetenzerwerb wird dann besonders gefördert, wenn die Studierenden und Referendare selbst in entsprechend problemorientierte, authentische und komplexe Lehr-Lern-Kontexte (z.B. Fallstudien) eingebunden werden.

Für den Einsatz von Fallstudien in den zwei Phasen der Ausbildung zukünftiger Lehrer und Lehrerinnen in der Universität und im Referendariat sprechen auch aus theoretischer Sicht Argumente. Ziel des hier vorgestellten Projektes ist es, Personenkreise mit unterschiedlichen Wissensstrukturen, unterschiedlichen Erfahrungswelten und Handlungsmustern zusammenzuführen. Konkret bedeutet dies, Studierende mit Referendaren in einen Diskussionszusammenhang über die Planung, Durchführung und Evaluierung des alltäglichen Unterrichts zu bringen, damit sie aus deren Erfahrungen möglicherweise erste Handlungsstrategien für unterrichtliches Lehrerhandeln ableiten. Die Beschreibung der entsprechenden Kontexte und die Darstellung von Problemstellungen gelingt über Fallstudien. Über die Bearbeitung der Fallstudien, d.h. über das Entwickeln von möglichen Problemlösungen lernen Studierende somit bereits vor ihrem Eintritt in ihr späteres Tätigkeitsfeld ein Spektrum an Handlungsmustern für unterrichtliches Alltagshandeln kennen und können dies bereits während ihrer im Rahmen des Studiums zu absolvierenden Praktika erproben. Daneben soll Referendaren die Möglichkeit gegeben werden, didaktische und fachdidaktische Wissensbestände in die praktische Anwendung im täglichen Unterrichtsgeschehen zu überführen. Dabei sollen sich die Referendare über das Gespräch mit den Studierenden für alternative und moderne Handlungsstrategien in Unterrichtsprozessen öffnen und dabei auf die jeweils zugrunde liegenden Theorien zurückgreifen. Das Lösen von problemorientierten, realitätsnahen und komplexen Fällen soll den Referendaren helfen, von einer Routinisierung der Unterrichtsgestaltung abzukommen und anstelle dessen das Wissen um moderne Lehr-Lern-Konzepte und -Arrangements handlungsleitend werden zu lassen.

Die Fallstudie erweist sich somit als ein relativ einfaches, aber dennoch hochgradig geeignetes Instrument, um im Hinblick auf didaktische Kompetenzbildung und theoriegeleitete Routinisierung einen problemorientierten, authentischen und komplexen Lehr-Lern-Kontext zu schaffen, der angehendes Ausbildungspersonal sowohl in der ersten als auch in der zweiten Phase der Lehrerausbildung anspricht und einbindet.