Humboldt-Universität zu Berlin - Kultur-, Sozial- und Bildungswissenschaftliche Fakultät - Vergleichende und Internationale Erziehungswissenschaft

SFB 640 - Zeremonielle Pädagogik

SFB 640-I: Zeremonielle Pädagogik in post-revolutionären Gesellschaften: Öffentliche Inszenierung und soziale Mobilisierung in Meiji-Japan, in der frühen Sowjetunion und im Mexiko der 1920er-1930er Jahre
Unter dem Titel einer "Zeremoniellen Pädagogik" untersucht das Projekt unterschiedliche Formen der medial gestützten Repräsentation von Programmen für die umfassende Neu-Ordnung ganzer Staaten und Gesellschaften, wie sie typischerweise im Zusammenhang mit revolutionären Umbrüchen entworfen und politisch umgesetzt wurden. Der Einsatz solcher Repräsentationsformen zielte darauf ab, die revolutionären Neuordnungsprogramme und die diese legitimierenden Ideologien oder Mythen breitenwirksam zu vermitteln und sozialisatorisch zu verankern. In diesem Sinne haben Forschungen zur Französischen Revolution Forschungen, denen sich auch der Leitbegriff der "Zeremoniellen Pädagogik" verdankt, die pädagogische Nutzung räumlicher Inszenierungen und visueller Medien zu Zwecken einer staatlich gelenkten Massenbeeinflussung und Bewusstseinsformung nachgezeichnet. Eindringlich haben sie dargestellt, wie die Revolutionäre von 1789 versuchten, öffentliche Feste, Raumarchitektur und kollektive Rituale bewusst zu inszenieren und zu Zwecken der breitenwirksamen ideologischen Umerziehung zu instrumentalisieren (Harten 1989 und 1990 sowie Ozouf 1976). Wie diese Arbeiten, so bewegt sich auch das hier umrissene Projekt im Überschneidungsbereich von politischer Geschichte, historischer Bildungsforschung und Mediengeschichte. Anders aber als die Untersuchungen zur Französischen Revolution intendiert das Projekt eine dezidiert komparative Analyse. Denn analoge Formen "zeremonieller Pädagogik" finden sich gleichfalls in anderen Fällen revolutionärer Umbrüche und in anderen auch als Erziehungsstaaten charakterisierten Gesellschaften (zu diesem Konzept siehe Schriewer, Benner und Tenorth 1998). Als besonders fruchtbare Vergleichsfälle in diesem Sinne sollen in die Untersuchung einbezogen werden: Japan im Gefolge der Meiji-Revolution von 1868 (bis etwa zum Abschluss der nach dem Meiji-Tennô benannten Phase im Jahre 1912), die frühe Sowjetunion (der 1920er bis Ende der 1930er Jahre) und Mexiko nach der Revolution von 1910 (bis circa 1940). In allen drei Fällen soll es zunächst darum gehen, die Formen, Hintergründe und Akteure der Funktionalisierung visueller, architektonischer, choreographischer und anderer Medien zu Zwecken einer breitenwirksamen Bewusstseinsformung in ausführlicher Rekonstruktion zu untersuchen und historisch-politisch zu kontextualisieren. Der Vergleich sozial-kulturell unterschiedlichen Realisierungen strukturgleicher bzw. als strukturgleich unterstellter Aktionsformen ist dann darauf angelegt, typische Muster des Rekurses auf "zeremonielle Pädagogik" im Kontext forcierter Homogenisierungs- und Integrationspolitiken von Gesellschaften in revolutionären Modernisierungsschüben herauszuarbeiten. Komplementär dazu sollen die geplanten Untersuchungen schließlich auch die Rolle historisch weiterwirkender Modelle oder Modellgesellschaften berücksichtigen und möglicherweise quer laufenden Anregungen und Transferbeziehungen zwischen den drei Gesellschaften nachgehen.

Projektleitung: Prof. Dr. phil. Jürgen Schriewer

Weitere Projektleitungen: Prof. Dr. Jörg Baberowski

Weitere Projektmitglieder: Carlos Martínez; Matthias Braun; Dr. Eugenia Roldán Vera; Daniel Hedinger; Stefan Kirmse; Manuel de los Reyes García Márcina.

Laufzeit: 1. Förderperiode: 07/2004 - 06/2008
               2. Förderperiode: 06/2008 - 2012

Publikationen:

Baberowski, Jörg (1996c). "Staat und Gesellschaft im wilhelminischen Kaiserreich und im vorrevolutionären Russland. Ein Strukturvergleich". In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 44:3, S. 197-222.

Baberowski, Jörg (1999). "Auf der Suche nach Eindeutigkeit: Kolonialismus und zivilisatorische Mission im Zarenreich und in der Sowjetunion". In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 47, S. 482-504.

Baberowski, Jörg (2000). "Nationalismus aus dem Geist der Inferiorität: Autokratische Modernisierung und die Anfänge muslimischer Selbstvergewisserung im östlichen Transkaukasien 1828-1914". In: Geschichte und Gesellschaft 26, S. 371-406.

Baberowski, Jörg (2003). Der Feind ist überall. Stalinismus im Kaukasus, München & Stuttgart.

Braun, Matthias (2003). "Vremja Golovokru enija Zeit des Schwindels. Der alkoholische Rausch als Geste kulturellen Beharrens in der Sowjetunion der 1920er und 1930er Jahre". In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 51 (2003), 10, S. 896-911.

Braun, Matthias (2004). Prazdniki nastoja ego prazdniki pro logo. Sowjetische Feierkultur und Lebenswelt jenseits des Zentrums zwischen 1928 und 1941, Magisterarbeit, Universität Leipzig, in Vorbereitung.

Martínez Valle, Carlos (2004). "Die Zügelung des Rausches: Gefallenenmahnmale, Siegeszeichen und Demobilisierung in Francos Spanien". In: Rausch und Diktatur, hrsg. Malte Rolf & Arpad von Klimó. Frankfurt (voraussichtlich).

Rolf, Malte, Gabor Rittersporn & Jan C. Behrends (Hrsg.) (2003). Sphären von Öffentlichkeit in Gesellschaften sowjetischen Typs / Public Spheres in Soviet-Type Societies (= Komparatistische Bibliothek, Bd. 11), Frankfurt am Main.

Rolf, Malte (2000a). Sovetskij massovyj prazdnik v Vorone e i Central no- ernozemnoj oblasti Rossii, 1927-1932 [Das sowjetische Massenfest in Woronesh und dem zentralen russischen Schwarzerdegebiet, 1927-1932], Vorone .

Rolf, Malte (2000b). "Constructing a Soviet Time. Bolshevik Festivals and their Rivals during the First Five-Year Plan". In: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History 1:3, S. 447-473.

Rolf, Malte (2001a). "Feste des 'Roten Kalenders': Der Große Umbruch und die sowjetische Ordnung der Zeit". In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 49: 2, S. 102.

Rolf, Malte (2001b). "Oblast i prazdniki. Central no- ernozemnaja oblast i Kuzbass, 1927-1941. Granicy i vozmo nosti sravnitel noj perspektivy [Fest und Region. Das zentrale russische Schwarzerdegebiet und der Kuzbass, 1927-1941. Möglichkeiten und Grenzen einer vergleichenden Perspektive]". In: Istori eskie zapiski Vorone skogo Universiteta 3, S. 1-5.

Rolf, Malte (2002a). "Feste der Einheit und Schauspiele der Partizipation Die Inszenierung von Öffentlichkeit in der Sowjetunion während des Ersten Fünfjahresplanes". In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 2, S. 163-171.

Saaler, Sven (2003). "Die Meiji-Zeit: Japans Weg in die Moderne". In: Kleine Geschichte Japans, hrsg. Josef Kreiner, Stuttgart.

Saaler, Sven (2004). "Ein Ersatz für den Yasukuni-Schrein? Die Diskussion um eine neue Gedenkstätte für Japans Kriegsopfer". In: Asien (in Vorbereitung).

Schriewer, Jürgen, Dietrich Benner & Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.) (1998). Erziehungsstaaten. Historisch-vergleichende Analysen ihrer Denktraditionen und nationalen Gestalt, Weinheim.

Schriewer, Jürgen (1999). "Vergleich und Erklärung zwischen Kausalität und Komplexität". In: Diskurse und Entwicklungspfade. Der Vergleich in den Geschichts- und Sozialwissenschaften, hrsg. Hartmut Kaelble & Jürgen Schriewer, Frankfurt am Main, S. 53-102.

Schriewer, Jürgen (2001). "Fortschrittsmodelle und Modellkonstruktionen. Formen der Internationalisierung pädagogischen Wissens". In: Wissenschaftsgeschichte heute. Festschrift für Peter Lundgreen, hrsg. Jürgen Büschenfeld, Heike Franz & Frank-Michael Kuhlemann. Bielefeld, S. 302-327.

Schriewer, Jürgen & Hartmut Kaelble (Hrsg.) (2003). Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main & New York.