Humboldt-Universität zu Berlin - Kultur-, Sozial- und Bildungswissenschaftliche Fakultät - Institut für Erziehungswissenschaften

Humboldt-Universität zu Berlin | Kultur-, Sozial- und Bildungswissenschaftliche Fakultät | Institut für Erziehungswissenschaften | Positionspapier des Instituts für Erziehungswissenschaften zur Lehrer:innenbildung

Positionspapier des Instituts für Erziehungswissenschaften zur Lehrer:innenbildung, zu dualem Studium und zur Bewährung der Drei-Fach-Kombination im Grundschullehramt

 

Der Koalitionsvertrag der neuen Landesregierung in Berlin sieht erstens eine deutliche Steigerung der Absolvent*innenzahlen in der Lehrer*innenbildung, zweitens die Einführung eines Quereinstiegs im Rahmen eines Ein-Fach-Masters sowie drittens die Diskussion über die Reduktion des Dreifach- Modells und die mögliche Einführung eines Zweifachstudiums im Grundschullehramt (GSL) und schließlich die Einführung eines Pilotprojektes bzw. Modellversuches vor, in dem das duale Studium eingeführt und erprobt werden soll.

Dazu wurden von der Senatsverwaltung sehr kurzfristig zwei Expert*innengruppen eingerichtet: eine Expert*innengruppe „Lehramt an Grundschulen“ mit dem Ziel der Überprüfung der 3- Fach- Kombination und Erarbeitung von Empfehlungen sowie eine Expert*innengruppe


„Duale Lehramtsstudiengänge“.

 Das IfE positioniert sich hierzu wie folgt:



1.    Zu: „Duales Studium Lehrkräftebildung für die Grundschule“

Das IfE sieht einen Modellversuch sehr kritisch. Der Fokus auf die Bekämpfung des Lehrkräftemangels mit kurzfristigen Maßnahmen lässt die Perspektive auf eine bessere Verzahnung von Theorie- und Praxisanteilen im Studium aus dem Blick geraten. Das geht auf Kosten der Qualität und der Qualitätsentwicklung der universitären Phase. Mit dem Modellversuch könnte zudem die Legitimierung des status quo einhergehen, in dem bereits jetzt viele Studierende ohne entsprechende Qualifikation und ohne qualifizierte Begleitung in Schulen arbeiten, unter zum Teil unverantwortlichen Bedingungen (Notengebung, Klassenführung, eigenverantwortlicher Unterricht und damit Entscheidungsmacht über Bildungs- und Lebenswege von SchülerInnen). Zur Erreichung des politischen Ziels werden Mittel gewählt, die eine schnellere, kostengünstigere Unterrichtsversorgung an Schulen gewährleisten sollen. Demgegenüber sehen wir unsere erste Aufgabe und Verantwortung in der Sicherung und Weiterentwicklung einer qualitätsvollen universitären ersten Phase der Lehrkräftebildung.

 

Das IfE warnt vor folgenden, vermutlich nicht-intendierten Effekten:

  • ein Unterlaufen der Errungenschaft, angehende Lehrkräfte an der Universität wissenschaftlich für ihren Beruf zu bilden und ihr pädagogisches Handeln wissenschaftsbasiert vorzubereiten
  • eine Marginalisierung der universitären Anteile des Studiums in räumlicher, zeitlicher und inhaltlicher Hinsicht
  • die verstärkte Verfestigung habitueller Einstellungen, Vorurteile und Stereotypen aus schulischen

 

Praxiserfahrungen (als Schüler*in und als Quasi-Lehrling) ohne begleitende fachwissenschaftliche, fachdidaktische und pädagogische Reflexion

  • die Verhinderung von Kompetenzaufbau für eine wissenschaftsbasierte Innovation und Entwicklung der Schule
  • eine Absenkung des Qualitätsniveaus und eine Verengung des Bildungsbegriffes durch Einführung von „Microcredentials“ (Bescheinigungen über die Teilnahme an Lerneinheiten, die weniger umfangreich als Studiengänge sind)

 

Diese Effekte stehen im Widerspruch zu bildungswissenschaftlichen Forschungsergebnissen, die seit über 30 Jahren eine Stärkung der Wissenschaftsorientierung und die Einübung einer forschenden Haltung als wesentliches Qualitätsmerkmal der Lehrer*innenbildung hervorheben.

Insbesondere das Grundschullehramt wird mehrheitlich von Frauen angestrebt. Die Reduktion dieses Berufs auf eine Fähigkeit, die durch Praxiswissen erworben werden könne, bei gleichzeitiger Verringerung des wissenschaftlichen Anspruchs bedeutet eine historische Rolle rückwärts und steht einer realen Gleichstellung der Geschlechter entgegen. Wird der Berufseinstieg mit dem Bachelor-Abschluss vorangetrieben, gehen zu dieser inhaltlichen und symbolischen Entwertung eines Berufs mit hohem Frauenanteil auch finanzielle Einbußen für Frauen damit einher.

Das Vorhaben, mit einem dualen Studiengang mögliche neue Zielgruppen zu erschließen, um möglichst schnell mehr Lehrkräfte bereits in der frühen Studienphase in die Schulen zu bringen, birgt zudem die Gefahr, dass auch der pädagogische Umgang mit Kindern und Jugendlichen nicht ausreichend fachlich fundiert ist. Das steht Bestrebungen entgegen, Schutzkonzepte gegen Machtmissbrauch und (sexuelle) Gewalt in Schulen zu realisieren. Dazu braucht es ausreichend fachwissenschaftlich-pädagogische Kenntnisse.

 

Das Lehramt wird insgesamt also weiter herabgewürdigt und das höchste Gut der nachwachsenden Generation – die Bildung – geschwächt. Außerdem entsteht eine zusätzliche Belastung für die (überwiegend weiblichen) Lehrkräfte in den Schulen, weil sie die Arbeit der Studierenden auffangen, flankieren bzw. Fehler, die aus dem Mangel an qualitativ hochwertiger universitärer Bildung und Professionalisierung entstehen, ausgleichen müssen. Ferner werden den Absolvent*innen Perspektiven genommen, sich für die Forschung zu qualifizieren, wodurch auch langfristig Personal für die Lehrkräftebildung fehlt und diese unmöglich macht.

 

Demgegenüber sieht das IfE innerhalb der bestehenden Studienordnung viele Möglichkeiten, den Studierenden sinnvolle Angebote zu machen. Beispielsweise ist das Praxissemester neu zu bewerten: Da Studierende bereits im Laufe des Studiums Praxiserfahrungen machen (z.B. als PKB- Lehrkraft), könnten diese strukturell im Praxissemesters aufgegriffen werden. Eine sinnvolle Integration in die Lehre (z.B. SE-Anteil: Reflexion eigener Unterrichtserfahrungen) kann aber nur erfolgen, wenn dafür auch genügend personelle Ressourcen vorhanden sind, die eine qualitativ hochwertige Begleitung ermöglichen. Die Humboldt- Universität ist im Rahmen der Organisation des Praxissemesters davon weit entfernt! Statt also neue Studiengänge einzuführen und die Qualität zu reduzieren, sollten die vorhandenen Ressourcen und die vorhandenen Strukturen sinnvoll genutzt werden. Dazu aber sind personelle Mittel nötig, die über das hinausgehen, was der status quo ist.

 

Auch Abschlussarbeiten sind sehr gute Instrumente, um bereits erfahrene Praxis wissenschaftlich fundiert zu reflektieren und damit das eigene Lehren zum Forschungsgegenstand zu machen. Auch hier sind personelle Mittel dringend notwendig, da die zuständigen Professuren in den grundschulbezogenen Studiengängen an der Überlast der Betreuung der Abschlussarbeiten schon aktuell an Grenzen stoßen.

An der HU gibt es über das berufsfelderschließende Praktikum und das Praxissemester hinaus zahlreiche Schüler*innenlabore, Schulkooperationen und praxisnahe Seminaranteile, die Studierende in kulturelle und schulische Handlungsfelder sozialisieren und zur Individuation und Enkulturation beitragen, ohne Studierende an den institutionellen Erwartungen der Schule zu messen und sie in eine Doppelrolle zu bringen. Auch hier wären Möglichkeiten gegeben, über die Professional School of Education die Kooperation mit den Schulen praxisnah aufzubauen und das ehemalige Partnerschulprojekt der HU, das leider finanziell nicht  mehr gefördert  wird,

 

wiederzubeleben. Um die bestehende Expertise und die schon vorhandenen Strukturen auch in diesem Bereich zu nutzen, wären wiederum Ressourcen notwendig.

 

Falls die Erprobung eines Modellversuchs unumgänglich ist, wäre dieser nur unter den folgenden Bedingungen für uns diskutierbar:

  • Der Modellversuch kann nur im Masterstudium „Lehramt an Grundschulen“ eingeführt Eine Einbindung in das Bachelor-Studium lehnen wir ab. Der Rollenwechsel von Student*in zu Lehrer*in ist ein längerer Prozess, der immer Gefahr läuft, dass bereits bestehende biografische, kulturelle und gesellschaftliche Stereotypen aus der eigenen Schulerfahrung verfestigt statt reflektiert werden, dass also eine wirksame Professionalisierung und die Herausbildung eines lehrenden und reflexivem Habitus nicht durch zu frühe Verantwortung in der Praxis erreicht wird. Daten aus dem Projekt OVID-PRAX legen z.B. den Schluss nahe, dass selbst Studierende im Praxissemester sich bei ihren deutschdidaktischen Entscheidungen in erster Linie an bereits vor dem Studium bekannten schulischen Mustern orientieren (Winkler 2019). Zudem weisen Forschungsergebnisse darauf hin, dass mit einer zu frühen, unbegleiteten Praxiserfahrung weitere negative Effekte auf die Bildungsgerechtigkeit im Bildungssystem zu erwarten sind.
  • Alle Akteur*innen in den grundschulbezogenen Studiengängen sind bis an die Grenze Es muss sichergestellt sein, dass auf die jetzt aktiven Mitarbeitenden in Lehre und Verwaltung keine Mehrarbeit mehr zukommt.
  • Für den Master sind in der Bologna-Vereinbarung 120 Credit Points festgeschrieben, die universitär erworben werden müssen. Diese sind in dem jetzigen Studienmodell, das 2015 entwickelt und gerade erst überarbeitet wurde, verteilt. Die Abbruchquoten im GSL sind sehr gering (siehe unten). Die aktuelle Studiengangsorganisation ist erfolgreich. Bevor hier Veränderungen vorgenommen werden, sollte erst der status quo ermittelt werden. Es müssten Evaluationen des aktuellen Modells erstellt und geprüft werden, damit eine wissenschaftliche Basis für Reformen vorliegt.
  • Mehr Unterrichtspraxis während des Studiums kann nur durch ebenfalls mehr Begleitung durch die Hochschule legitimiert werden, wie es in anderen Ländern (z.B. Niedersachsen) und Staaten (z.B. Finnland) bereits etabliert ist. Schon jetzt ist die Begleitung der Studierenden im Praxissemester durch Mentor*innen an der Schule und durch Hochschullehrer*innen in Berlin in keiner Weise zufriedenstellend gewährleistet. Bereits jetzt sind die zuständigen Stellen kapazitär überfordert.
  • Zu klären ist erneut das Verhältnis von erster Phase und zweiter Phase und damit das Verhältnis fachwissenschaftlicher, fachdidaktischer, überfachlicher und pädagogischer Qualifikationsinhalte und -formate. Dazu müsste dringend auf bildungswissenschaftliche Expertise und erziehungswissenschaftliche Forschungsergebnisse auch aus der international vergleichenden Forschung zurückgegriffen

 

2.    Zu: „Bewährung der Drei-Fach-Kombination“ im Grundschullehramt (GSL)

Das IfE steht gegenüber einer Reduktion auf zwei oder weniger Fächer ablehnend gegenüber, da es erstens keine zwingenden Gründe für eine solche Veränderung gibt und zweitens das aktuelle Modell sehr erfolgreich ist. Folgende Argumente stehen gegen eine Änderung:

  • Die Studienordnung im GSL fokussiert auf die fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Anteile, so wie es in allen bildungswissenschaftlichen Empfehlungen und Expertisen gefordert wird. An der HU existiert darüber hinaus sogar eine grundschulspezifische Bezugswissenschaft für die Fächer– das ist ein hochwertiges Angebot, in das nicht eingegriffen werden
  • Es besteht die Gefahr, dass aufgrund der aktuellen Fixierung auf die Fächer Deutsch und Mathematik die Bedeutung der anderen Fächer (u.a. Sport, Sonderpädagogik, Sachunterricht) marginalisiert Der Sachunterricht ist beispielsweise ein gesellschaftlich und bildungswissenschaftlich hoch relevantes Fach, in dem wichtige Querschnittsthemen wie Demokratiebildung, Bildung für nachhaltige Entwicklung und Sprachbildung ihren Platz haben – eine Minderung des Angebots widerspricht dem Anliegen (des Senats), diese wichtigen Querschnittsthemen in der ersten Phase zu verankern und geht an den aktuellen gesellschaftlichen Erfordernissen und an den Erfordernissen einer breiten Professionalisierung von Lehrkräften, die die gesellschaftlichen Aufgaben gewachsen sind, völlig vorbei.

 

  • Die Qualifikation von Lehrkräften in drei Unterrichtsfächern ist positiv, weil in der späteren Schulpraxis weniger fachfremd unterrichtet wird
  • Die Abbruchquoten im GSL sind verschwindend gering, obwohl viele Studierende neben dem Studium arbeiten. Diese Studierenden finanziell zu unterstützen, würde für den Studienerfolg hilfreich sein.
  • Eine belastbare Studierendenbefragung zur tatsächlichen Belastungssituation der Studierenden in einem Studium mit drei Fächern fehlt bisher; intern befragte Studierende finden die Belastungen nicht zu hoch, sondern die Anforderungen insgesamt gut zu bewältigen; nur zu Prüfungszeiten ist die Belastung hoch
  • Für das Image und die Attraktivität des Grundschullehramts muss stets geworben werden – schränkt man die Wahlmöglichkeiten der Fächer weiter ein, werden Bewerber*innen möglicherweise ausbleiben
  • Bei der Einführung eines Zweifachstudiums besteht die Gefahr der Regionalisierung. Auf den ersten Blick erscheint es sinnvoll für Berlin, wenn die in Berlin ausgebildeten Lehrkräfte dann nicht mehr in anderen Bundesländern (mit Ausnahme von Niedersachsen) arbeiten könnten. Das Studium wird damit jedoch unattraktiver. Klebeeffekte sind vorprogrammiert.
  • Für das Fach Mathematik ist hervorzuheben, dass die fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Grundlagen für den Unterricht in der Primarstufe an der HU Berlin aus einer Hand durch zwei Professuren gelehrt werden, die am Institut für Erziehungswissenschaften angesiedelt sind. Somit sind die fachlichen und fachdidaktischen Inhalte eng verzahnt und ausschließlich auf die Bedarfe von Studierenden im Grundschullehramt ausgelegt. Die Ergebnisse in Prüfungen zeigen, dass die fachlichen Inhalte des Mathematikstudiums, welche durch zusätzliche Unterstützungsangebote begleitet und durch situiertes Lernen in Lehr-Lern-Laboren anwendungsnah vermittelt werden, für die Studierenden keine unüberwindbare Hürde darstellen. Die Bestehensquoten liegen auf einem sehr hohen
  • Dieses positive Bild spiegelt sich auch darin wider, dass im universitätsinternen Vergleich nicht nur für Mathematik, sondern für alle Fächer des Studiengangs „Bildung an Grundschulen“ die geringsten, somit „besten“ Werte in Bezug auf die Studiendauer aller sechssemestrigen Kombinationsbachelorstudiengänge (mit und ohne Lehramtsoption) zu verzeichnen sind. D. h. die Studierenden im Grundschullehramt studieren durchschnittlich schneller als alle anderen Studierenden in Kombinationsstudiengängen der HU Berlin, und das trotz der hohen Kohortenstärken, die eine gute Betreuung tendenziell erschweren. Die Abbruchquote liegt an der HU bei nur ca. 10 bis 18%.

 

 

Angesichts der aktuellen Rahmenbedingungen (fehlende Räume für Lerngruppen von über 500 Personen, überlastetes Personal, mehr als 12 parallele SE-Veranstaltungen sehr viele Abschlussarbeiten, aufwändige Organisation und Durchführung von Prüfungen etc.) ist die Einführung eines neuen Studiengangs oder die Einführung eines neuen Systems wie ein dualer Studiengang kaum zu stemmen.



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Kultur-, Sozial- und Bildungswissenschaftliche Fakultät
Institut für Erziehungswissenschaften
Institutsdirektor

Prof. Dr. Malte Brinkmann

malte.brinkmann@hu-berlin.de