Promotionsprojekt
„Kritisieren und Leiblichkeit. Sozial- und erfahrungstheoretische Überlegungen zu einer pädagogischen Praxis“
Das Verhältnis von Pädagogik und Kritik gehört zu den weiterhin nicht geklärten Problemen pädagogischer Theorie und Praxis. Kritik als eine besondere und ausschließlich denkerische Tätigkeit und Sprachhaltung steht in der Tradition der „bildungstheoretischen Leibvergessenheit“ (Schütz 1995). Leiblichkeit und Denken bzw. Kritik stehen hier in einem Spannungsverhältnis; der Leib wird unter die reflexive, kritische und autonome Vernunft unterworfen. In der phänomenologischen Erziehungswissenschaft wurden in den letzten Jahrzehnten nicht-essentialistische und nicht-dualistische Konzepte von Leiblichkeit entwickelt (vgl. Meyer-Drawe 2001). Es wird möglich, die leibliche Reflexivität in der Praxis des Urteilens als existenzielle und soziale Praxis auszuweisen (vgl. Brinkmann 2016a).
Die These dieser Arbeit lautet: Die Praxis des Kritisierens als eine auf Urteilen ausgerichtete soziale Praxis vor den Anderen kann als „Antworten auf einen Anspruch“ (vgl. Waldenfels 2007) und eine „Positionierung des Subjektes“ (vgl. Butler 2016) bestimmt werden. Subjekte werden durch die, das, den andere(n) positioniert. Solche Subjektpositionen werden durch die Positionierung der Akteure ausgefüllt und aufgeführt, sie werden performativ hervorgebracht. Mit dem erfahrungstheoretischen Zugang (Brinkmann 2016b) werden plurale Praxen des Kritisierens diesseits der Dogmatisierungen von Rationalismus und Kognitivismus aufgewiesen und Kritisieren als performative Praxis bestimmt. Die Perspektive richtet sich also auf den Vollzug des Kritisierens statt dessen Ergebnisse, wobei Leiblichkeit als konstitutives Moment im Fokus steht. Urteilen bedeutet dann nicht mehr, die Welt ausschließlich vernünftig zu repräsentieren und sie auf Begriffe zu bringen: Urteilen setzt vielmehr die Nichtrepräsentierbarkeit von Mensch und Welt voraus. Statt Bewusstsein und Identität treten Differenz, Alterität und Leiblichkeit in den Vordergrund. Damit werden Aspekte der pädagogischen Anthropologie relevant (vgl. Brinkmann 2016a, Ricken 2006). Die Bestimmung des Urteilens als Praxis auf den Boden der „gebrochenen“ (Fink 1989) und „exzentrischen“ (Plessner 1975) menschlichen Selbst- und Weltverhältnisse impliziert eine Abwendung von konventionellen eurozentrischen Vorstellungen vom Subjekt, von Rationalität und Identität. Die Expressivität des Leibes gerät in Abkehr von der metaphysischen Tradition in den Fokus. Damit wird der Wahrheitsanspruch des logischen Urteils brüchig. Die Dissertation setzt sich mit der Frage auseinander, ob eine Kritikform möglich ist, der kein autonomes Subjekt der Erkenntnis zugrunde liegt und die sich als Kritisieren als soziale Praxis (vgl. Butler 2016) im Modus des Könnens (vgl. Loch 1980) erfassen lässt?
In einem weiteren Schritt soll der Übungscharakter der Praxis des Kritisierens in den Fokus rücken. Kritisieren als soziale Praxis und als Erfahrung kann unter einer pädagogisch-erziehungstheoretischen Perspektive in Anlehnung an Malte Brinkmanns Übungstheorie als Praxis der Einübung der Kritik bestimmt werden. Die Praxis des Kritisierens und ihre Übung können sich – in bildungs- und erziehungstheoretischer Perspektive – in einer Haltung (ethos) verdichten, die das Subjekt in ein reflexives und kritisches Verhältnis zu sich selbst, zu den anderen und zur Welt setzt (vgl. Dörpinghaus 2006). Wenn Kritik nicht nur Aufklärung vom Bewusstsein (vgl. Ruhloff 2003) ist, kann sie im Gegenzug als Praxis eines aufgeklärten Existieren-Könnens, als praktische und kritische Lebensführung bestimmt werden, die Techniken der Selbstregierung (vgl. Foucault 2007, bes. S. 287-317) einschließt. Kritik als eine besondere Denkhaltung und als Gestus lässt sich, so die weiterführende These, weder auf eine didaktische Spezialität des Faches Politik oder der politischen Bildung, noch auf rein kognitivistische und anthropozentrische Bestimmung von Urteilskraft als ein Vermögen eines vernunftbegabten Subjektes reduzieren. Üben als Prozess bringt das Ausüben einer Sache im Einüben einer Fähigkeit bei gleichzeitigem Sich-selbst-üben zusammen (vgl. Brinkmann 2012, S. 224ff; Brinkmann 2016, S. 161ff). Somit steht im Mittelpunkt weiterer Überlegungen die zentrale Frage nach der Praxis des Übens einer Kritikfähigkeit, die über bloß kognitive und intellektualistische Konzepte hinausgeht und sich als soziale Praxis erfassen lässt.
Literatur
Brinkmann, Malte (2012): Pädagogische Übung. Praxis und Theorie einer elementaren Lernform. – Paderborn.
Brinkmann, Malte (2016a): Leib und Denken. Zum Verhältnis von Denken, Lernen und Erziehen in der interkorporalen Reflexivität. Vortrag auf der Jahrestagung der Kommission Bildungs- und Erziehungsphilosophie „Verkörperte Bildung – Körper und Leib in geschichtlichen und gesellschaftlichen Transformationen“ am 27.09.2016 in Bonn. [online]: https://www.researchgate.net/project/Leiblichkeit-und-Lernen-Embodiment-in-pedagogy [04.10.2017].
Brinkmann, Malte (2016b): Allgemeine Erziehungswissenschaft als Erfahrungswissenschaft. Versuch einer sozialtheoretischen Bestimmung als theoretisch-empirische Teildisziplin. In: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 92. Jg., H. 2/2016. – Paderborn, 215-231.
Brinkmann, Malte (2017): Leib, Wiederholung, Übung. Zu Theorie und Empirie interkorporaler Performativität. In: Thompson, C./ Schenk, S. (Hrsg.): Zwischenwelten der Pädagogik. – Paderborn, 155-172.
Butler, Judith (2016): Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung. – Berlin.
Dörpinghaus, Andreas/ Helmer, Karl (2006): Ethos-Bildung-Argumentation. Würzburg.
Fink, Eugen (1989): Der Mensch als Fragment. In: Fink, E. (Hrsg.): Zur Krisenlage des modernen Menschen. Erziehungswissenschaftliche Vorträge. Würzburg, 29-47.
Foucault, Michel (2007): Ästhetik der Existenz. – Frankfurt am Main.
Meyer-Drawe, Käte (2001): Leiblichkeit und Sozialität. Phänomenologische Beiträge zu einer pädagogischen Theorie der Inter-Subjektivität.– München.
Plessner, Helmut (1975): Die Stufen des Organischen und der Mensch. Berlin.
Ricken, Norbert (2006): Die Ordnung der Bildung. Beiträge zu einer Genealogie der Bildung. – Wiesbaden.
Ruhloff, Jörg (2003): Problematisierung von Kritik in der Pädagogik. In: Benner, D. et al. (Hg.): Kritik in der Pädagogik. Versuche über das Kritische in Erziehung und Erziehungswissenschaft.46. Beiheft der Zeitschrift für Pädagogik. – Weinheim, 111-123.
Schütz, Egon (1995): Probleme einer Neuformulierung des Bildungsbegriffs.. Online verfügbar unter: https://www.erziehungswissenschaften.hu-berlin.de/de/allgemeine/egon-schuetz-archiv/verzeichnis-der-unveroeffentlichten-schriften [10.11.2017]
Waldenfels, Bernhard (2007): Antwortregister. – Frankfurt am Main.